Boders Beharren darauf, den Verlauf und die Struktur der Interviews wesentlich mitzubestimmen, bricht mit populären Erwartungen an „Zeitzeugengespräche“. In dieser Verunsicherung liegt auch die Chance, unsere oft ehrfürchtige Haltung gegenüber Holocaust-Überlebenden zu hinterfragen.
Im Sommersemester 2016 haben wir uns in dem Seminar „Should We Close the Gates to Displaced Persons? Zuhörend begreifen wollen: Interviews mit Heimatlosen im Europa von 1946“ intensiv mit den Boder-Interviews befasst. Im Folgenden wird ein Text dokumentiert, der im Rahmen des Seminars für den Jenaer Workshop „70 Jahre nach Boders Interviews“ entstanden ist. Der Text wurde für den Blog überarbeitet und gekürzt.
In unserem Seminar hörten wir einige Interviewstellen immer wieder gemeinsam an, mit anderen Interviews beschäftigten wir uns alleine und stellten sie unseren Kommiliton:innen vor. Unsere ersten Diskussionen drehten sich jedoch nicht um die Personen, von denen wir erwartet hatten, dass sie die Hauptakteure wären, die Interviewten, sondern vor allem um David P. Boder. Beim Hören der Interviews irritierte uns Boders schroffes Nachfragen. Seine Fragen kamen uns unsensibel und anmaßend vor. Boder schien keinerlei Scheu zu haben. Er brachte sich als Fragender aktiv in die Interviews ein, unterbrach seine Gesprächspartner:innen mit Nachfragen und bestand auf Systematik und Chronologie der Erzählungen. Seine Art des Fragens war uns fremd, hatten wir doch gelernt, „Zeitzeugen“ vor allem zuzuhören. Nach einer Zeit versuchten wir, unsere Irritation zu nutzen, um mehr über eigene Hemmungen zu erfahren.
Die Fragen Boders bergen eine besondere Chance im Hinblick auf unser Verstehen. Wenn wir die Interviews hören, können wir „mit Boder fragen und erfahren“. Boder erfuhr selbst viel Neues im Gespräch mit den DPs. Er erfragte Abkürzungen, Namen, Orte, Daten, Ausdrücke. Boder fragte nach uns heute selbstverständlichen Dingen: „Auschwitz, wo liegt das eigentlich?“[1]. Durch seine unverstellten Nachfragen konnten wir Boders Erkenntnisprozess an einigen Stellen nachvollziehen. Wir fingen an mitzuforschen, was uns aus der Position der passiv Zuhörenden und Aufnehmenden, die wir in den bisherigen Gesprächen mit Zeug:innen eingenommen haben, herausholte.
Boders charakteristischer Umgang mit den erzählten Erinnerungen der Befragten wird z.B an den Stellen deutlich, an denen er auf Diskontinuitäten in den Erzählungen aufmerksam macht. Heute müssen wir uns fragen, warum Boder einhakt: Möchte er nur ein möglichst komplettes Bild der Abläufe? Oder wertet Boder Lücken in Erzählungen als Ausdruck eines Traumas? Beim Hören der Interviews können wir diese Irritationen befragen. Gleichzeitig müssen wir mitbedenken, dass die Interviewten aus ihrer Erinnerung erzählen, die notwendigerweise selektiv abläuft. Unsere Irritation ergab sich also aus unseren Erwartungen, die wir an den Fragenden, aber ebenso an die Befragten hatten. Besonders der 17-jährige Gert Silberbard erstaunte uns. Auf die Frage, wo Auschwitz sei, antwortete er wie aus dem Lehrbuch: „Auschwitz ist in Oberschlesien, das polnische Städtchen Oświęcim…“[2]. Warum erschien uns diese Stelle so merkwürdig, obwohl Silberbard genau auf die Frage antwortet, die ihm gestellt wird? Warum antizipieren wir andere Antworten?
Wir haben, sobald wir das Wort Auschwitz hören, offenbar das Symbol Auschwitz im Kopf, ikonische Bilder, nicht den geografischen Ort. Silberbard erfüllte durch seine Art zu antworten keine unserer Erwartungen an eine Person, die noch vor einem Jahr Zwangsarbeiter im KZ war. Wir erwarteten mehr Emotionalität, fast gingen wir davon aus, dass Leidenserfahrungen, die nach so kurzer Zeit versprachlicht werden, nicht vollständig und klar erzählt werden können, dass sie sich vor allem in Stocken, Schluchzen und Lücken ausdrücken müssten.
Diese Auseinandersetzung ließ uns mit offenen Fragen zurück: Von welchen Vorstellungen sind wir in unseren Erwartungen an „Zeitzeugen“ geprägt? Warum gehen wir davon aus, dass es keine „passenden“ Worte für die Shoah gibt? Durch Fragen wie diese konnten wir unsere eigene Arbeit mit den Interviews hinterfragen. Warum erscheinen uns einige Stellen wichtiger oder interessanter als andere? Mit welchem Fokus und mit welchem Vorwissen arbeiten wir? Diese Art Fragen und Überlegungen aus den Interviews abzuleiten steht exemplarisch für unseren Reflexionsprozess im Seminar. Indem wir uns „mit Boder“ getraut haben nachzufragen, haben wir uns eingebracht.