Die Interviews von 1946
Im Sommer 1946 interviewte der Sprachpsychologe David P. Boder über 100 Displaced Persons (DPs) in europäischen DP-Camps und Waisenheimen. Boder sprach mit den entwurzelten Menschen in Frankreich, Italien, der Schweiz und in der amerikanisch besetzten Zone Deutschlands. Zu hören sind die Stimmen von Jungen und Alten, Frauen und Männern, Kommunist:innen und Religiösen, Zionist:innen und Nicht-Zionist:innen. Viele der Interviewten kamen aus Mittel- und Osteuropa, andere aber auch aus Frankreich oder Griechenland. Sie alle waren der NS-Verfolgung mit dem nackten Leben entkommen und nach ihrer Befreiung durch die Alliierten auf der Suche nach einer Zukunft.
Besondere Qualitäten
Der Professor aus dem Chicagoer Illinois Institute of Technology (IIT) zeichnete die Interviews mit einem Recorder auf, der die Stimmen auf magnetisiertem Draht speicherte.
Boders Methode war eine Pionierleistung in der Nachkriegszeit; vergleichbare Initiativen verfassten lediglich schriftliche Protokolle von Gesprächen mit Zeug:innen. Insgesamt neun Sprachen führen uns die Tonaufnahmen von 1946 zu Gehör, die meisten der Interviewten wählten Deutsch, Jiddisch und Russisch. Das Projekt des Psychologen bildet die weltweit erste Sammlung von akustisch aufgezeichneten Interviews zur nationalsozialistischen Verfolgung.
Viele der DPs hatten Zwangsarbeit in Ghettos und Lagern leisten müssen. Die Mehrzahl waren Juden und Jüdinnen. Doch der 59-jährige Boder (1886-1961), der aus einer lettisch-jüdischen Familie stammte, suchte auch das Gespräch mit nicht-jüdischen DPs. Er wollte mit den Interviews die (amerikanische) Öffentlichkeit aus der Erfahrungsperspektive von Augenzeug:innen über die deutschen Verbrechen in Europa und die Lebenssituation der „displaced people“ aufklären. Ihre Erzählungen sollten empathisches Verständnis fördern und die strikte Einwanderungspolitik der USA liberalisieren helfen. Als Sprachpsychologe verfolgte Boder die Absicht, den Prozess der „Dekulturation“ systematisch zu untersuchen. Dafür entwickelte er einen „Traumatic Index“, ein bemerkenswert früher Versuch, aus den Erzählungen von Überlebenden ein differenziertes Verständnis von den Dimensionen des Leids zu erarbeiten, für die Verfolgte oft noch gar keine Sprache hatten.
Besondere Erkenntnischancen
Im Unterschied zur Lektüre der schriftlichen, oft stark überformten Protokolle von Gesprächen, etwa der Jüdischen Historischen Kommissionen, können wir mit Boders Aufzeichnungen den Gesprächen und Erinnerungserzählungen zuhören. Mit den Tondokumenten sind auch die – oft insistierenden – Fragen Boders überliefert. Wahrnehmbar bleibt die Art und Weise, wie Überlebende auf Boders Fragen emotional unterschiedlich reagierten. Ihr individuelles Erzählen und (Be-)Schweigen lässt sich im dynamischen Prozess der Gespräche wahrnehmen, bietet somit andere, sinnlich erweiterte Möglichkeit für historisches Begreifen.
Im Unterschied zu den meist älteren und alten Menschen in den Videointerviews, die seit den 1980er Jahren initiiert worden sind, hatten viele der 1946 interviewten Frauen und Männer den größeren Teil ihres Lebens noch vor sich. Ihre Zukunft war noch ungewiss, die Erfahrung der „world catastrophe“ (Boder) lag erst anderthalb Jahre zurück. Was heute als Holocaust oder Shoah angesprochen wird, hatte 1946 noch keinen weltweit anerkannten Namen. Dennoch sind bereits Erzähl- und Deutungsmuster deutlich zu erkennen.
Frühe Interviews – späte Forschung
Der über 60-jährige Boder arbeitete unermüdlich, um die erschütternden Erzählungen aus Ghettos und KZs ins Bewusstsein der Welt zu bringen. Seine Edition von acht Gesprächen veröffentlichte er 1949 in den USA – für eine deutsche Ausgabe von „I Did Not Interview the Dead“ fand er keinen Verlag. Nach Boders Tod 1961 geriet sein Projekt auch in den USA fast ins Vergessen. Bis in die 1990er Jahre blieben die Tonspulen ungehört, seine über 70 Interviewtranskripte ungenutzt.
Erst in den 1990er Jahren hat die Library of Congress die Spulen erfolgreich digitalisiert. Die Paul V. Galvin Library am Chicagoer Illinois Institute of Technology (IIT) stellt seit 2009 die meisten der Interviews online zum Hören und Lesen bereit. Im März 2021 hat das IIT ihr verdienstvolles Archiv „Voices of the Holocaust" modernisiert freigeschaltet.
Parallel begann die Forschung: Die Historikerin Simone Gigliotti bezog sich in ihrer mikrohistorischen Studie über Deportationserfahrungen in Zügen („The Train Journey“, 2009) vielfach auf Boders Interviews. Der Historiker Jürgen Matthäus unterzog exemplarisch die vorhandenen Transkriptionen und Übersetzungen einer ersten konstruktiven Kritik (in „Approaching an Auschwitz Survivor“, 2009). 2010 veröffentlichte der Literaturwissenschaftler Alan Rosen seine bahnbrechende Studie „The Wonder of Their Voices“ über Boders Interviewforschung. Bereits 2006 erschien eine französische, 2011 eine deutsche Übersetzung von Boders 1949 verlegter Edition „Die Toten habe ich nicht befragt“. 2014 verglich die Holocaust-Forscherin Sharon Kangisser Cohen die frühen Interviews von Boder mit später geführten Video-Interviews („Testimony and Time“, 2014). Der Jenaer Historiker Daniel Schuch verknüpft kritische Fragen zu Transformationen von Zeugenschaft mit neuen Fallstudien zu David P. Boders Interviewpartner:innen (erscheint Ende 2021).
75 Jahre danach – der Weblog als Forum
Seit etwa 15 Jahren entstehen also wichtige Studien zum Lebenswerk Boders und zu einzelnen DP-Interviews. Inzwischen werden Boders Interviews öfter auch in Überblickswerken zitiert, doch dabei leider nicht immer gründlich untersucht und in Entstehungskontexte eingebettet. Nur zögerlich wird das enorme Potential dieser früh entstandenen Sammlung für die historische Bildung erkannt. Jetzt, im Jahr 2021, genau 75 Jahre nach Boders Interviewreise von 1946, wollen wir mit „Fragen an Displaced Persons“ ein digitales Forum für gemeinsames Nachdenken an den DP-Interviews etablieren.
Der Blog: Vorgeschichten
Der Blog versteht sich als Plattform, auf der Forschungsfragen mit den Herausforderungen der Vermittlung verbunden werden können. Aus diesem Wechselspiel ist auch die Idee dazu entstanden. Seit 2015 habe ich viele Student:innen und Kolleg:innen für Boders Interviews begeistern können, dabei auch Nachbardisziplinen in den Austausch einbezogen. Junge Geisteswissenschafter:innen erstellten in Jena neue Transkriptionen und Einzelstudien, von Seminararbeiten über Spezialstudien bis hin zu Dissertationen. Auch Kurator:innen an deutschen Museen und Gedenkstätten sind inzwischen auf Boder aufmerksam geworden.
Forschungsreisen führten nach Israel und in die USA. Wir fanden Zugang und Vertrauen zu Überlebenden und/oder ihren Familien, so dass sich die Lebensläufe der Interviewten nach 1946 erneut im Dialog rekonstruieren ließen. 2017/18 förderten die DFG und die Fritz Thyssen Stiftung diese Forschung und den Ausbau des internationalen Netzwerks.
Forschung und Bildung als Prozess abbilden
„Fragen an Displaced Persons: 1946 und heute“ soll künftig Erträge und Zwischenergebnisse, die aus der Beschäftigung mit Boders Sammlung entstehen, transparent machen, bündeln, erweitern und in neue Konstellationen bringen. Wir möchten mit den Autor:innen Neugierde stiften, fundiertes Wissen vermitteln, Methoden- und Fragekompetenz fördern. Als Plattform möchten wir auch Laien einbeziehen.
Blogbeiträge dürfen Fragen formulieren, ohne sie gleich selbst beantworten zu müssen. Auch „steilere“ oder intuitive Thesen sind willkommen; ebenso Erfahrungsberichte im Umgang mit Boders Interviews in der Bildungsarbeit und Forschung. Bei aller Offenheit für Form und Inhalt: wir möchten uns mit anderen wissenschaftlichen Texten nachvollziehbar auseinandersetzen, belegen darum unsere Quellen und Bezugnahmen. Weil auch Zuhören immer wieder geübt werden will und Voraussetzung ist für Quellenkritik im Akustischen, laden wir mit Audiofiles und Links regelmäßig zum Hören der vollständigen Interviewaufnahmen ein.
Langfristiges Ziel: ein Bildungsportal
„Fragen an Displaced Persons: 1946 und heute“ wird so gut sein wie diejenigen, die dazu beitragen. Durch zahlreiche Mitarbeit sollen im Laufe der Monate und Jahre neue Themen-Cluster entstehen. So ließe sich die Expertise zu einzelnen Personen und Lebensläufen vertiefen, aber auch neue Ansatzpunkte für übergreifende Fragen entwickeln.
Das Prozessuale ist Teil des Gesamtkonzeptes: Phase 1 war die Lehre und Forschung in Jena und Buchenwald zwischen 2015 und 2019. Dieser partizipativ angelegte Blog lässt sich als Phase 2 verstehen – auf dem Weg zu einer dritten Phase und Form. Denn das langfristige Ziel ist ein fachübergreifendes Bildungsportal, das exemplarisch 20 bis 30 von Boders DP-Interviews akustisch und sprachlich neu ediert, in ihren Kontexten erschließt und viele Kommentarebenen bietet.
Für dieses Modellprojekt kann der Blog bereits Ansprechhaltungen erproben, Bedürfnisse und Wahrnehmungsweisen ermitteln, Lernwiderstände erkennbar machen. Forschung und Vermittlung geht hier Hand in Hand, Lehren und Lernen wird als offener Prozess gestaltet.
Ermunterung zum Mitmachen
Für die Redaktions- und Konzeptionsarbeit konnte ich im Sommer 2020 die Historikerin Lisa Schank gewinnen, unterstützt durch eine halbjährige Modellförderung der Bundeszentrale für politische Bildung für die Startphase. Als Redaktion sichern wir gemeinsam die Qualität der Beiträge, ermuntern zur Nutzung von akustischen Zitaten und Bildern, unterstützen die Autor:innen mit Hinweisen auf Archivquellen. Interessierte Laien sind ebenso Zielgruppe wie Lehrer:innen, Wissenschaftler:innen und historisch-politische Bildner:innen etwa aus Gedenkstätten, Museen und Medien.
Wir freuen uns auf Ihr Feedback sowie über Hinweise auf Neuigkeiten aus der „DP- und Boder-Welt“. Für Beiträge empfehlen wir, sich frühzeitig mit unserer Redaktion in Verbindung zu setzen.
Axel Doßmann
Kontakt:
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Lisa Schank