Inwiefern war Boder ein Pionier der Holocaustforschung?

Eine Frage, drei Antworten

Boders Gespräche mit DPs gelten heute als die weltweit erste systematische Sammlung von Audio-Interviews mit Holocaust-Überlebenden. Was genau macht diese Sammlung so attraktiv und herausfordernd zugleich?

Ein wichtiges Element der frühen Forschung ist, dass das Sammeln und Erforschen hier häufig Hand in Hand gingen. Die sorgfältige Sicherung von Dokumenten und Beweismaterialien, die Aufzeichnung von Zeugenaussagen, das Festhalten des Erlebten war genauso zentraler Teil der frühen Auseinandersetzung wie das (vorsichtige) Einordnen und Historisieren. Boders Initiative fügt sich in diese vielfältige, aber äußerst fragile Forschungslandschaft ein. Er ist einerseits selbst als Figur interessant, die sich auf die beschwerliche Reise nach Europa begab, um die traumatischen Erlebnisse der Verfolgten aufzuzeichnen. Der starke Wille zur Aufklärung und Erinnerungsarbeit, der ihn antrieb, war ein erkennbarer Motor für die gesamte Kohorte der früheren Forscher:innen. Sie waren weder passiv noch still, auch wenn sie zum Zeitpunkt kaum jemand hören mochte. Andererseits führte Boders Impuls, als Psychologe vor allem an den Auswirkungen von Katastrophenerfahrung auf das Individuum interessiert zu sein, zu einem für die historische Forschung herausragenden Quellenbestand. Durch sein Verfahren, aber auch seine Position des Beobachters, der Krieg und Holocaust aus der amerikanischen Distanz erlebt hatte, bietet sich hier eine Sammlung von ungeglätteten, vielsprachigen Aussagen.

Einer der wichtigsten Holocaustforscher der ersten Generation, Philip Friedman, – der selbst Interviews mit Überlebenden geführt und schriftlich dokumentiert hatte – würdigte 1951, dass Boder eine „neue anspruchsvollere psychologische Methode der Befragung und Aufzeichnung“1 eingeführt habe. Dennoch sind Boders DP-Interviews zunächst nicht systematisch genutzt worden. Weder von den jüdischen Forscher:innen noch darüber hinaus. Er erlangte also erst nachträglich (wie viele seiner Mitstreiter:innen auch) als ein Pionier der Holocaustdokumentation angemessene Anerkennung.

Elisabeth Gallas


Boders Projekt kann in vielerlei Hinsicht als Pionierleistung gelten. Vorrangig ist hier zu betonen, dass Boders Interviews das erste überlieferte oral history-Projekt mit Holocaustüberlebenden darstellt, das uns nicht nur Dialoge mit Überlebenden in Übersetzung lesen, sondern sie uns auch im Original hören lässt. In anderen Sammlungen von Überlebenszeugnissen, die aus der frühen Nachkriegszeit stammen und auf Interviews basieren, sind die Stimmen der ehemals Verfolgten nur noch indirekt präsent, weil – auch aus Mangel an technischen Möglichkeiten – darauf verzichtet wurde, Originaldialoge aufzuzeichnen. Stattdessen wurden Antworten der Betroffenen zu narrativen Berichten umgearbeitet und die Äußerungen der Interviewenden einfach weggelassen.

So interventionistisch der Interviewer Boder uns heute oft erscheinen mag, so bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, dass er alles Gesagte zu Protokoll nehmen wollte und es in seiner dialogisch-auralen Rohform überlieferte, und zwar in insgesamt neun europäischen Sprachen. Der polyglotte Tausendsassa Boder konnte weit flexibler auf die Sprachwelten und -vorlieben seiner Gesprächspartner eingehen, als es anderen Sammler:innen von Überlebenszeugnissen möglich war – und ist.

Dieses Bemühen, sich auf die multilinguale Welt der europäischen Juden und Jüdinnen einzulassen, geht einher mit Versuchen, sprachliche Entscheidungen und Eigenarten seiner Gesprächspartner:innen nicht nur semantisch begreifen, sondern auch kausal deuten zu wollen. Dies wird in Boders Übersetzungen ausgewählter Interviews ins Englische deutlich, in denen er nicht selten Aspekte wie Sprachwechsel, Wortwahl oder individuelle sprachliche Eigenheiten kommentierte, um das unerhörte Gehörte für die gedachte amerikanische Öffentlichkeit verständlich(er) zu machen. Boder versuchte sich somit an multiplen Übersetzungen: von Ton in Text, von europäischen Sprachen ins Amerikanische, von erlittenen Lagerwelten in erhoffte Neuanfänge. Damit war Boder nicht nur ein Aufzeichner, sondern auch ein Mittler zwischen unterschiedlichen Sprach- und Erfahrungswelten.

Beate Müller


David P. Boder war ein Holocaustforscher avant la lettre. Er war Katastrophenforscher, experimenteller Psychologe, Traumaforscher und vieles mehr. Als er im Juli 1946 nach Europa reiste, um Audio-Interviews aufzuzeichnen, hatte er keineswegs das alleinige Ziel, die Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden zu erforschen. Sein vorrangiges Anliegen war die Befragung von zunächst nur vage definierten „war sufferers in Europe“. Opfer von Konzentrationslagern standen dabei durchaus im Fokus. Während seiner Feldforschung im Nachkriegseuropa waren es insbesondere jüdische humanitäre Hilfsorganisationen, die ihm halfen Interviewpartner:innen zu finden. Im Prozess der Befragungen von sogenannten Displaced Persons verstand er schließlich sukzessive die Dimensionen der NS-Vernichtungspolitik.

Boder kann daher als Pionier einer humanwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen an den Juden begriffen werden. Sein Interviewprojekt ist im Kontext der ersten Versuche eines Verstehens des Massenmords zu verorten.

Im Gegensatz zur Arbeit der jüdischen „Survivor Scholars“ im Nachkriegseuropa wie Philip Friedman, Israel Kaplan oder Rachel Auerbach müssen Boders Forschungen in den USA allerdings eher in der Tradition der sozialwissenschaftlichen „Disaster Studies“ der Chicago School verortet werden. Das, was wir heute den Holocaust nennen, war in Boders Worten eine noch nie dagewesene „man made catastrophe“, deren Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Menschen es zu erforschen galt.

Daniel Schuch