Im Interview mit Boder wendet sich Bella Zgnilek auf polnisch an ihre Zuhörer:innen. Ein kritischer Blick auf die bisherige Übersetzung zeigt, dass ihre Äußerung entschärft wurde.
„Well, I will just send them regards, and I am happy that not everybody of the Jews went through such a hard times as we did“[1] beschließt Bella Zgnilek das englischsprachige Interview mit David P. Boder auf dessen Frage hin, ob sie „your own people“ noch etwas mitteilen wolle. Danach folgt eine Pause. Geräusche legen nahe, dass Zgnilek und Boder sich austauschen, während die Aufnahme nicht weiterläuft. Als die Aufnahme wieder einsetzt, ergreift Boder das Wort und leitet ein weiteres Schlusswort Zgnileks ein: „Bella wants to add a few remarks in Polish. Go ahead, Bella.“ Zgnileks polnische Äußerung erklärt Boder im Anschluss vor verschiedenen Hintergründen – erstens aus seinem Interesse als Forscher heraus, zweitens als Gefühlsäußerung von jungen Überlebenden und drittens als eine Auffassung Zgnileks, die richtig eingeordnet werden müsse:
This was a kind of a postscript that I wanted to have, because it‘s exceedingly important to have the feelings of these young people. We notice here that she spoke in German, in English, in Polish, and when it came to express her feelings she preferred to express it in Polish. This polyglotism, or multilinguistics if we want to call it that way, represents a psychological and ethnic problem at the same time.[2]
Doch was sagt Bella Zgnilek eigentlich auf Polnisch, das sie von allen im Interview genutzten Sprachen am besten beherrscht? In der bisher veröffentlichten Fassung des Interviews gibt es keine polnische Transkription der Passage. Boder bot bei der Nachbereitung des Interviews eine Übersetzung (wahrscheinlich seines langjährigen Mitarbeiters und polnisch-jüdischen Shoah-Überlebenden Bernard Wolf) an, die auch auf der Website des Illinois Institute of Technology zugänglich ist:
I would like to tell you, my friends, that all of us Jews ought to hate the Germans because of the wrongs which they did to us and our families, because they broke our hearts, broke our homes, and we ought never to forget that.
In der polnischen Passage des Interviews hört man Bella Zgnilek sagen:
Chciałabym Wam jeszcze powiedzieć, moi przyjaciele, że każdy z nas Żydów powinien mocno nienawidzić Niemców za te krzywdy, które oni nam wyrządzili, nam i naszym rodzinom. Za to, że złamali nasze serca, że złamali nasze domy, że już chyba nigdy nie odrodzi się to wszystko, co nam zabrano.[3]
Ins Deutsche übersetzt:
Ich möchte Euch noch sagen, meine Freunde, dass jeder von uns Juden die Deutschen stark hassen sollte für das Leid, das sie uns angetan haben, uns und unseren Familien. Dafür, dass sie unsere Herzen gebrochen haben, dass sie unsere Häuser zerstört haben, dass all jenes wohl nie wieder wiedererstehen wird, was uns genommen wurde.
Erstaunlich ist der Abgleich der englischen Übersetzung mit dem originalen Wortlaut. Denn in der Übersetzung fehlt die Feststellung vom unersetzlichen materiellen wie immateriellen Verlust und wird durch die Floskel „and we ought never to forget that“ ersetzt. Auch an weiteren Stellen weicht die Übersetzung Boders vom polnischen Original ab.[4] So verzichtet er auf das Adjektiv „mocno“ (dt. stark, engl. strong) und schwächt damit ab, in welchem Grade Juden Deutsche hassen sollten. Auch die Übersetzung des Wortes „krzywda“ als „wrongs“ ist abschwächend. Innerhalb des Kontextes von Zgnileks Äußerung und auch in der polnischen Sprache ist in Verbindung mit dem Verb angelegt, dass den Juden nicht nur Unrecht, sondern Leid angetan wurde. Alle Verschiebungen Boders und Wolfs verlegen den Akzent auf das im Nachkrieg oft beschworene „Nie wieder“, auf ein Erinnerungsgebot und eine bessere Zukunft. Dabei stellt Zgnilek die Vergangenheit und die daraus zu ziehenden Konsequenzen für jede:n einzelnen (polnischsprachige:n) Jüdin/ Juden in den Vordergrund. Sie betont den Verlust, sieht zum Zeitpunkt des Interviews keine Option eines Wiederaufbaus und fordert einen bleibenden Hass auf die Deutschen ein.
Der Boderforscher Alan Rosen versteht den Sprachwechsel nicht wie Boder nur als Möglichkeit, sich emotionaler auszudrücken. Vielmehr deutet er den Umschwung „from gratitude in English to hatred in Polish“ als „possibility to invoke delicate subjects (e.g. obligatory hatred of Germans)“[5], die aus der Sicht Zgnileks amerikanischen Zuhörer:innen nicht zugemutet werden sollten. Es geht mit Rosen somit stärker um die Zuhörer:innenschaft, die in den jeweiligen Sprachen adressiert wird, als um die psychische Verfassung Zgnileks. Wie Boder die Brisanz von Zgnileks Äußerung weiter abmildert und damit individualpsychologische Dimensionen vor gesellschaftlichen betont, zeigt auch der Eingriff in seine eigene Aussage. Hatte er 1946 noch „ethnic“ gesagt, so änderte er dieses bei seiner Transkription in den 1950er Jahren Wort in „ethical“ um. Boder verschiebt somit nochmals den Akzent auf allgemeine Einsichten, anstatt das Konfliktpotential der Nachkriegszeit abzubilden.
Mit ihrem Appell an polnischsprachige Überlebende schreibt sich Zgnilek unmittelbar in die Nachkriegszeit ein, als Hass und Wünsche nach Rache noch nicht verpönt waren. Damit ist dieser kleine Abschnitt ein interessanter – wenn auch zu historisierender – Ausgangspunkt um spätere Debatten zum Umgang mit Täterschaft, historischer Schuld und nicht zuletzt deutsch- jüdische Beziehungen nachzuvollziehen.
Mit zeitlichem Abstand zum Krieg stand die (politische wie wirtschaftliche) Versöhnung der ehemaligen Kriegsgegner:innen zunehmend im geschichtskulturellen Fokus. Gerade von deutscher Seite wurde der Ruf nach Versöhnung offensiv vorgebracht und manchmal den Opfern geradezu abverlangt. (Jüngst zeigte Max Czollek polemisch die Verschiebung des deutschen Diskurses anhand der Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985).[6] Unter Berufung auf eine angeblich ausgewogene Erinnerung an den Krieg fordern Deutsche ihr vermeintliches Recht auf ein Gedenken an eigene Kriegsopfer zunehmend ein. Dieser erinnerungskulturelle Diskurs verwischt dabei manchen Wissensstand der Historiographie. Von Deutschland aus wird zudem Geschichtspolitik zum Beispiel in Ostmitteleuropa und Russland und daraus resultierende – oft als nationalistisch bewertete – Erinnerungsrituale mit kritischer Distanz beobachtet. Beiseitegeschoben wird oftmals die Dimension des Leids, das in den jeweiligen Ländern bearbeitet wird. Anders gesagt: Trotz durchaus berechtigter Kritik an nationalistisch geprägten Geschichtskulturen sollten die historische Ausmaße des deutschen Vernichtungskriegs und insbesondere der Shoah präsent bleiben und Diskurse um Erinnerung(en) nicht wichtiger werden als historische Fakten.[7]
Der Appell Zgnileks an ihre Zuhörer:innen bringt in Erinnerung, dass ein konfrontativer Umgang mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs unter den Bedingungen des Kalten Krieges und der Systemtransformation nach 1989/90 in unzähligen Anstrengungen geschichtskultureller Akteur:innen in einen friedlichen Umgang miteinander umgebogen wurde. Boders Interview führt vor diesem Hintergrund zweierlei vor Augen: Es sind erstens Interpretationen wie die seine, die den Weg zur Bearbeitung von katastrophischer Geschichte und zur Überbrückung von Feindschaften bereiteten. Doch sind es zweitens gerade die von Boder geänderten Passagen, die Zgnileks Appell zu einem Zeugnis der Umwege der Nachkriegsdiskurse werden lassen, wenn ihr statt der Fortschreibung von Hass der Wunsch nach zukunftszugewandter Erinnerung in den Mund gelegt wird.