Boders Sammlung lädt dazu ein, auch Einzelphänomene in vielen seiner Interviews systematisch vergleichend zu untersuchen. Der Soziologe Michael Becker und der Literaturwissenschaftler Dennis Bock forschen seit vielen Jahren gemeinsam zur Diskursfigur des Muselmanns – wir tauschten uns mit ihnen per email aus.
Wann und wie seid ihr in Eurer Forschung über die „Muselmänner“ auf Boders Interviews gestoßen?
Auf Boder aufmerksam geworden sind wir durch ein Gespräch mit Axel Doßmann im März 2016, am Rande einer Tagung über Shoah Survivors´ Testimonies in Berlin. Der Kontext war dabei ein doppelter: Michael war zu dieser Zeit mit frühen sozialwissenschaftlichen Arbeiten über die Konzentrationslager beschäftigt während Dennis sich für seine Studie „Literarische Störungen in Texten über die Shoah“[1] mit dem Phänomen der Muselmänner auseinandergesetzt hat. Es hat sich herausgestellt, dass Boders Interviews für beide Themen von großem Interesse waren. Er hat als Psychologe und Katastrophenforscher zur frühen „Verwissenschaftlichung der Konzentrationslager“ (Kim Wünschmann)[2] beigetragen. Und in seinen Interviews im Sommer 1946 stieß Boder auf Erzählungen über Muselmänner, genauer: Er wollte verstehen, was mit dem Begriff des Muselmanns überhaupt für ein Phänomen gemeint war und bekam dann durchaus verschiedene Erklärungen zu hören. Seine Interviews tragen deshalb heute nicht nur dazu bei, das kanonische Bild von „den“ Muselmännern zu differenzieren, sondern auch, ihre Rolle in der sozialen Ordnung der Konzentrationslager besser zu verstehen.
Boder erleben wir oft als recht naiven Fragesteller. Das scheint uns nicht nur Methode zu sein, er wusste wirklich wenig im Jahr 1946, hat wohl auch die verfügbaren Dokumente zur Welt der Lager im Vorfeld seiner Forschungsreise nicht genau zur Kenntnis genommen. In welcher Situation begegnete Boder erstmals dem Begriff des Muselmanns?
Das erste Mal in seinem Interview mit Adam Krakowski am 30. Juli 1946 in Paris – am ersten Tag seiner Feldforschung in Europa. Im Rahmen des von Boder durchgeführten Thematic Apperception Test (TAT) legt er dem polnischen Überlebenden mehrere schwarz-weiße Bildtafeln vor. Im Laufe der Bildrezeption erkennt Krakowski u.a. eine leidend aussehende Frau, während er beim Anblick der darauffolgenden TAT-Karte einen „Toten, so ein Muselmann“ assoziiert:
David Boder: Und was für eine Geschichte präsentiert dieses Bild?
Adam Krakowski: Einen Toten, so ein Muselmann.
David Boder: Was?
Adam Krakowski: Das ist ein Muselmann, ein Kranker.
David Boder: Ein Kranker?
Adam Krakowski: Ja.
David Boder: Was ist ein Muselmann?
Adam Krakowski: Ein Muselmann ist ein Mann, der schon so schwach ist, dass er kann alleine nicht gehen.[3]
Boder ist ob des unbekannten Begriffs hörbar irritiert, weiß das neue Wissen in der Folge aber strategisch in seinen Interviews einzusetzen. In gewisser Hinsicht ist er also ein naiver Fragesteller, aber auch ein hervorragender Wissenschaftler, ausgestattet mit einem Gespür für Schlüsselmomente, die er für seine Forschung nutzbar machen konnte.
Und mit welchen Fragen hat Boder das Phänomen weiterverfolgt? Wie entstand sein Wissen, was folgte für ihn daraus in seiner eigenen Analyse?
Muselmänner sind wiederholt Thema in den über 100 Gesprächen, die Boder zwischen dem 30. Juli und dem 4. Oktober 1946 aufgezeichnet hat. Während er sich bei mehr als der Hälfte der insgesamt neun Gespräche mit Muselmann-Bezug erklären lässt, was ein Muselmann sei – in diesen Fällen haben die Überlebenden den Ausdruck zuvor selbst verwendet –, fragt Boder in einer Reihe weiterer Interviews auch ohne vorherige Erwähnung explizit nach Muselmännern. In diesen Beispielen interessiert ihn insbesondere die Wortbedeutung. Wie Alan Rosen in seiner Studie über Boder vorschlägt, zeige ein Vergleich der Interviews von Adam Krakowski und Samuel Isakovitch, dass Boders Fragetechnik nach Muselmännern zum einen auf die Verifikation eines ihm unbekannten Begriffs ziele, der Psychologe zum anderen jedes Gespräch als eine eigenständige Einheit begriffen habe.[4] Um die Verständlichkeit für die späteren Rezipient:innen zu gewährleisten, habe Boder den Ausdruck Muselmann daher wiederholt erklären lassen.
Auffällig ist, dass Boder seine anfänglichen Wissensdefizite über den Verlauf seiner Interviewrecherchen sehr schnell auszugleichen und für seinen Verstehensprozess zu operationalisieren verstand. Insbesondere die erlernten Vokabeln der Lagersprache ermöglichten es ihm, den Überlebenden weiterführende Fragen zu stellen – Muselmann wird nachgerade zu einer Art Schlüsselbegriff oder Türöffner in seinen Gesprächen. Boders Beobachtungen sind mit denen anderer Forscher:innen hierbei durchaus vergleichbar.
Zuvor habt ihr davon gesprochen, dass Boders Gespräche auch dabei helfen können, das „kanonische“ Bild von Muselmännern zu differenzieren. Wie werden Muselmänner denn klassischerweise beschrieben?
Es gibt heute ein dominantes Narrativ über Muselmänner, das in verdichteter Form sogar Eingang in die gängigen Enzyklopädien des Holocaust gefunden hat.[5] Dort werden die Muselmänner als vollständig entkräftete Häftlinge beschrieben, deren Apathie und verlorener Lebenswille sich schon in ihren leeren Augen zeigt. Muselmänner gelten als Menschen, die von anderen Gefangenen gemieden und aus der Häftlingsgesellschaft ausgeschlossen wurden. All dies führte, so wird kanonisch behauptet, zu ihrem unvermeidlichen Tod. Als letztes Merkmal, das steckt ja bereits im Wort, werden zumeist nur männliche Häftlinge gemeint, wenn über Muselmänner gesprochen wird – eine Vorstellung, die jüngst Sharon Oster in ihrer Studie über „The Female Muselman“ eindrucksvoll widerlegt hat.[6]
Und wie beschreiben manche Interviewte von Boder die Muselmänner? Was sind die wichtigsten Unterschiede?
Besonders aufschlussreich ist Boders letztes Interview, das er mit mit Anna Kaletzka am 26. September 1946 in der Synagoge von Wiesbaden führte. Die Polin erzählt, dass sie ein „so-called complete Muselmann“ gewesen sei und nutzt bei der Beschreibung ihres Gesundheitszustandes zahlreiche der oben aufgeführten Aspekte. Boders Verwunderung darüber, dass sie überlebt hat sowie Kaletzkas anschließende Ausführung, sie habe als Muselmann in Auschwitz neuen Lebensmut gefasst, führen uns vor Augen, in welchen komplexen und teils widersprüchlichen Lebenswirklichkeiten sich die Menschen im Prozess der „Muselmanisierung“ befanden und dass dieser Prozess nicht zwangsläufig mit dem Verlust des Lebenswillens und dem unvermeidlichen Tod einherging. Insgesamt, das zeigt auch das Beispiel Kaletzka in Hinblick auf die notwendige genderspezifische Bearbeitung des Themas, tragen Boders Interviews dazu bei, das oben geschilderte dominante Narrativ zu hinterfragen. Unsere bereits an anderer Stelle begonnene Forschung unternimmt den Versuch, dies in systematischer Weise zu tun und die Darstellung zugleich um sozialgeschichtliche Aspekte zu erweitern.[7]
Boder gehörte zu den ersten, die „Muselmann“ als Kategorie zum Verständnis der Lagergesellschaften zu untersuchen begannen. Welche Forscher gehörten noch dazu?
Hier kommen wir wieder zurück zum Kontext der frühen „Verwissenschaftlichung der Konzentrationslager“. Blickt man etwa auf Texte, die noch während des Krieges und im ersten Jahrzehnt nach der Befreiung der Lager erschienen sind, dann gibt es einige Autorinnen und Autoren, die sich mit dem Phänomen der Muselmänner auseinandergesetzt haben. Neben Boder ist etwa der amerikanische Soziologe Elmer G. Luchterhand zu nennen, der als Soldat an der Befreiung einiger Lager beteiligt war und Anfang der 1950er-Jahre in die USA emigrierte Überlebende befragt hat.[8] Seine Dissertation von 1953 ist jüngst auf Deutsch erschienen.[9] Vor allem aber sind es zahlreiche Hybridtexte aus jener Zeit, die das Phänomen aufgreifen – also solche Texte von Überlebenden, in denen diese (auch) mit Hilfe wissenschaftlicher Begriffe und Kategorien ihre Konzentrationslagererfahrung verarbeiten. Beispiele dafür sind Eugen Kogon, Benedikt Kautsky, Bruno Bettelheim oder David Rousset. In diesen Texten spürt man, dass Muselmänner ein zentraler Aspekt zum Verständnis der Lagergesellschaften sind, ohne dass diese Arbeiten das bereits selbst systematisch ausarbeiten.
Die frühesten, uns bekannten Texte von Frauen, die Muselmänner erwähnen, sind u.a. Olga Lengyel[10] und Germaine Tillion.[11] Während Lengyel sich, typisch für diese Zeit, vor allem herablassend äußert, dürfte Tillions Text über Ravensbrück insofern von besonderer Bedeutung sein, als er von „Schmuckstücken“ spricht, dem bekanntesten Synonym unter vielen anderen, das in Frauenkonzentrationslagern verbreitet war. Interessant ist, dass „Muselmann“ und „Schmuckstück“ auf einer semantisch-begrifflichen Ebene als Versuch zur Entwertung zeitgenössischer Geschlechteridentitäten gelesen werden können, weil sie auf spöttische Weise Rollen- und Idealbilder konterkarieren.[12]
Nahmen Boder und Luchterhand einander wahr? Wie erklärt ihr die recht parallel entstehende Aufmerksamkeit?
Dazu haben wir bei dem Historiker Daniel Schuch nachgefragt, der im Rahmen seiner Dissertation über Boders Interviews und ihre Transformation auch dessen Nachlass unter die Lupe genommen hat. Von ihm wissen wir, dass Boder und Luchterhand voneinander Kenntnis hatten. Luchterhand hatte durch Bruno Bettelheim von Boders Interviewprojekt erfahren, er schrieb daraufhin im Juni 1949 (also noch vor der Veröffentlichung von I DID NOT INTERVIEW THE DEAD im Dezember 1949) an Boder und wollte sich mit ihm über seine Expertise zu KZ-Überlebenden und DPs austauschen. Luchterhand arbeitete zu diesem Zeitpunkt selbst noch an seiner Dissertation. Ein Austausch von Boder und Luchterhand lässt sich im Nachlass von Boder aber nicht finden.
Als ein Zwischenfazit: Welche Rolle haben die Boder-Interviews für eure Forschung gespielt? Welche Aspekte wollt ihr noch genauer untersuchen?
Besonders interessant ist, dass man mithilfe der Interviews nachvollziehen kann, wie sich bei Boder im Sommer 1946 über die ersten Interviews ein partikulares Erlebniswissen gebildet hatte, das er im Zuge seiner Gespräche mit weiteren DPs strukturell verfestigt oder bearbeitet. Einer vergleichbaren Wissensproduktion in den Nachlässen derjenigen Forscher:innen nachzuspüren, die in den 1940er-Jahren mit Shoah-Überlebenden gearbeitet haben, wäre eine großartige Chance, diese frühe Etablierung von Einsicht und Erkenntnis (für die Forschung) aufzubereiten. Insbesondere deshalb, weil die Beschäftigung mit Muselmännern beispielsweise in den 1980er- und 1990er-Jahren kein relevantes Thema war, sehr wohl aber in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Auch die Gerichtsprotokolle der frühen Nachkriegsprozesse, das wissen wir aus unserer Forschung, sind eine heiße Spur, die wir gerne weiterverfolgen würden.
Darüber hinaus gibt es weitere Aspekte, an denen wir gerne weiterarbeiten würden. In unserer ersten kleinen Studie (2015)[13] haben wir aus forschungspraktischen Gründen mit Materialien aus Buchenwald und Neuengamme gearbeitet, deren Hauptlager Männerlager waren. 96 der von uns durchgesehenen 100 Haftberichte stammten demzufolge von Männern. Ein nächster Schritt wäre aus unserer Sicht deshalb eine Durchsicht von Materialien über die Frauen beispielsweise in Ravensbrück oder in Auschwitz-Birkenau. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Nutzung von Videotestimonies, die wir bislang überwiegend nicht berücksichtigt haben.
Wie fasst ihr selbst die Kategorie des Muselmanns, die ja stark emotional und auch stigmatisierend besetzt ist? Inwiefern lässt sich der Begriff konstruktiv wenden für die weitere sozialgeschichtliche Erforschung der Lagergesellschaften?
Wir möchten insbesondere zwei Aspekte ansprechen, um zu erläutern, inwiefern wir Muselmänner als zentral für eine sozialgeschichtliche und soziologische Erforschung der Lagergesellschaften erachten.
Der erste ist der Begriff der Muselmanisierung. Dieser geht auf Worte aus der Lagersprache zurück (das Verb muzułmaniec und das Substantiv muzułmanienie) und zeigt, dass Muselmann keine statische Kategorie war, sondern ein dynamischer Prozess, an dem immer auch andere Häftlinge beteiligt waren. Muselmanisierung heißt, dass physisch und psychisch erschöpfte Häftlinge auf den niedrigsten Rang in der Häftlingshierarchie verwiesen und mit der Bezeichnung Muselmann belegt wurden. Muselmann war ein Häftling also immer auch in den Augen der anderen. Dies war ein sozialer Prozess, der zugleich konstitutiv für die Ordnung und Neuordnung der Häftlingsgesellschaften war. Dieser Prozess war nicht in allen Fällen unumkehrbar, einige Häftlinge haben ihn, auch dank der Hilfe durch andere, überlebt. Ihnen verdanken wir Zeugnisse, die diese Erfahrung der Muselmanisierung schildern.
Das macht bereits sichtbar – und das ist der zweite Aspekt – dass Muselmanisierung eine relationale Kategorie ist. Von Muselmännern lässt sich in diesem Sinne nur im Kontrast zu anderen Häftlingen sprechen, und nur in diesem Kontrast bekommt der Begriff seine volle Bedeutung. Das lässt sich an dem (oben angesprochenen) Zeugnis von Benedikt Kautsky zeigen, dessen Abschnitt über Muselmänner fast ausschließlich aus einer Beschreibung des Lagerältesten besteht.[14] Dessen Macht und Privilegien, das ist Kautskys Pointe, lassen sich erst im Kontrast zu den am anderen Ende der Hierarchie stehenden Muselmännern voll erfassen.
In diesem Sinne denken wir, dass die Erforschung der Konzentrationslagererfahrung der muselmanisierten Häftlinge von besonderer Bedeutung ist, um die soziale Ordnung und die sozialen Dynamiken innerhalb der Lagergesellschaften zu verstehen.
Herzlichen Dank Euch, wir sind gespannt auf Eure nächsten Analysen.
Die Fragen stellten Axel Doßmann und Lisa Schank.