„We are changing to the Polish language”

Teamwork: Lena Küchler redet mit David P. Boder

Das Interview Boders mit Lena Küchler besteht aus einem deutschen und einem polnischen Teil. Eine originelle Lösung, die beiden Raum für ihr jeweiliges Anliegen gab.

Im Spätsommer 1946 wurde in Bellevue (bei Paris) von unbekannter Hand eine Szene gefilmt, die nur zwei Sekunden währt: Ein Mann und eine jüngere Frau drücken sich in gegenseitigem Einverständnis die Hand.[1] Er ergreift mit beiden Händen ihren Unterarm und zieht sie zu sich heran. Sie lässt sich dies amüsiert gefallen und beide steuern zusammen auf die Kamera zu – dann bricht das Bild ab.

Screenshot aus David P. Boders Amateurfilmmaterial „Children at displaced persons camp“ (1946)
Copyright: United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Drs. Nicholas and Dorothy Cummings Center for the History of Psychology at University of Akron

Was David P. Boder damals mit Lena Küchler für seine Amateurfilmaufnahmen in Szene gesetzt hat, scheint sich auch im Interview der beiden zu spiegeln: Beide interagieren aus unterschiedlichen Impulsen heraus, doch offenbar in gegenseitigem Einvernehmen. Dieser Eindruck wird dadurch intensiviert, dass wir Küchler und Boder noch heute zuhören können:

Zum Interview Boders mit Lena Küchler

David P. Boder betonte seit der ersten Skizze für sein Forschungsprojekt, dass die von ihm Interviewten „in their own language“ sprechen sollten. Er wollte den Sprecher:innen größte Freiheit bieten, sich auszudrücken. Vom Gebrauch der Muttersprache/n versprach sich Boder wiederum genaueres Material für seine sprachpsychologischen Analysen. Boder kam dabei zu Gute, dass er viele der Interviewsprachen verstand und sie oft auch selbst sprach. Dies traf insbesondere für Russisch und Jiddisch zu. Das Polnische hingegen konnte Boder nur einigermaßen verstehen, auch darum bat er polnischsprachige DPs, wenn möglich die Interviews in Englisch, Deutsch oder Jiddisch zu geben.

Vor diesem Hintergrund ist das Interview mit Lena Küchler besonders aufschlussreich. Küchler gehörte zu denjenigen Gesprächspartner:innen, denen er auf Augenhöhe begegnete.[2] 1910 in Wieliczka bei Krakau in eine jüdische Familie geboren, schlug Küchler in den 1930er Jahren eine wissenschaftliche Karriere im Bereich der Kinderpsychologie ein und setzte diese auch nach dem Krieg fort. Die deutsche Besatzung überlebte sie außerhalb von Ghettos auf der sogenannten „arischen Seite“. Als katholische Polin getarnt, wurde sie trotz gefälschter Ausweispapiere mehrmals als Jüdin denunziert und verhaftet. Sie entkam aber polnischen wie deutschen Verfolger:innen und tauchte ihrer Erzählung zufolge in der Nähe von Treblinka als Kindermädchen bei einer polnischen Adelsfamilie unter. Einige Monate nach dem Krieg begann Küchler, Kinderheime für jüdische Waisen im Nachkriegspolen aufzubauen. Als sich gewalttätige antisemitische Attacken gegen sie und die Kinder häuften, plante sie mit jüdischen Hilfsorganisationen die Flucht und gelangte mit etwa hundert Kindern und Jugendlichen nach Frankreich – ins DP-Heim von Bellevue. Dort, am Rande von Paris, führte Boder dann am 8. September 1946 das Interview mit ihr. Zwei Jahre später emigrierte die zionistische Pädagogin mit „ihren“ Jugendlichen und Kindern nach Palästina.

Das Gespräch zwischen der 35-Jährigen und dem 59-Jährigen umfasst zwei ganz unterschiedliche Teile: Der erste Teil behandelt Küchlers Kriegserfahrungen bis kurz nach der Befreiung des besetzten Polens und ist auf Deutsch; im zweiten Teil spricht sie polnisch und beschreibt die Rettung der Waisenkinder und die Schwierigkeiten und Strapazen des Aufbaus eines Kinderheim.

Als ich das Interview hörte und transkribierte, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass für mich als deutschen Muttersprachler der deutsche Teil schwerer verständlich war als der polnische, obwohl ich Polnisch nur als Fremdsprache gelernt habe. Während Boder und Küchler sich des Deutschen nur als Vehikel bedienten, konnte Küchler im Polnischen aus dem Vollen schöpfen. Unverkennbar ist, dass Küchler mit dem Sprachwechsel ins Polnische über Boder die Überhand gewinnt. Hatte er im deutsch geführten Interviewteil noch oft unterbrochen und viele Fragen gestellt, kann sich Küchler im Polnischen freier entfalten. Küchler wiederum wirkt im ersten Gesprächsteil eher kurz angebunden, dagegen schildert sie im zweiten Teil viele Ereignisse detailliert und plastisch. Im Rückblick auf Küchlers Leben ließe sich sagen, dass sich bereits im Interview mit Boder andeutet, dass die Rettung der Kinder ihr Lebensthema werden würde. Sie veröffentlichte 1959 in Israel und später in den USA autobiografische Bücher,[3] 1948 aber erschien noch in Paris ihre eigene Edition von Gesprächsnotizen mit neun der geretteten Kinder und Jugendlichen.[4]

Boder war sich der Relevanz des Sprachwechsels durch Küchler bewusst, leitete ihn bereits im Interview mit einer eigenen Erklärung ein: „[…] Ms. Küchler requests that she would want to talk in Polish, since that is her language, in which she can talk freely without any difficulty […] We are changing to the Polish language.”[5] Er rationalisierte Küchlers Wahl für sich selbst und für künftige Hörer:innen, während er gleichzeitig recht offen seine sprachliche Inkompetenz einräumte.

Credits: Website „Voices of the Holocaust“, Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin
Library, Chicago

Auch wenn Küchlers Erzählung vom Krieg bereits davon geprägt ist, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt, so wächst sie erst nach dem Krieg in ihre lebensgeschichtlich entscheidende Rolle hinein: Sie versammelt viele traumatisierte, oft katholisierte jüdische Waisenkinder und versucht, ihnen ein neues Zuhause einzurichten. Sie beschützt sie vor antisemitischen Attacken, bietet ihnen Fürsorge, Erziehung und Zugang zu Bildung. Küchler wirkt in Teilen des Interviews missionarisch: Die Kinder streifen unter ihrer Obhut langsam den Horror der Shoah ab und wachsen zu einer Gemeinschaft zusammen, die einer lichten Zukunft entgegengeht. Für sie steht fest, dass die Zukunft „ihrer“ Kinder nur Erez Israel, der zu gründende jüdische Staat, sein kann.

Diese Geschichte der Selbstvergewisserung wirkt nicht zuletzt durch den flüssigen – gegenüber Boder dominanten – Vortrag wie eine Art Manifest. Ob Boder nur deshalb weniger eingreift, weil er sich sprachlich zurücknehmen muss, oder es auch andere Gründe für seine Zurückhaltung gibt, ist schwer einzuschätzen. Den für ihn wohl wichtigeren Teil vom Überleben Küchlers im Krieg hatte er auf Deutsch dokumentiert und mit seinen Fragen und Eingriffen aktiv mitgestaltet. Im zweiten Teil lässt er Küchler ihren Lauf in „her own language“. Das ist vielleicht auch ein Zugeständnis an diese energische Frau, die ihn beeindruckt haben muss. Am Ende waren wohl beide bereichert und dankbar, betrachtet man die kurze Selbstinszenierung im Amateurfilm.


Screenshot aus David P. Boders Amateurfilmmaterial „Children at displaced persons camp“ (1946)
Copyright: United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Drs. Nicholas and Dorothy Cummings Center for the History of Psychology at University of Akron

  1. David P. Boders Amateurfilmmaterial „Children at displaced persons camp“ (1946), ab Minute 03:54.
  2. Dazu Alan Rosen, The Wonder of Their Voice. The 1946 Holocaust Interviews of David Boder, New York 2010, S. 86 f.
  3.  Zur Biografie Küchlers siehe zuletzt: Boaz Cohen, Survivor Caregivers and Child Survivors: Rebuilding Lives and the Home in the Postwar Period, in: Holocaust and Genocide Studies 32 (April 2018) 1, S. 49-65, bes. S. 50 ff.
  4. Lena Kuechler, Meine Kinder, aus dem Polnischen ins Jiddische übersetzt von Aharon Tzafnat, (Editions U.P.J.) Paris 1948.
  5. David P. Boder interviewt Lena Küchler, 8. September 1946, Bellevue (Frankreich), in: Voices of the Holocaust, 00:37:37-00:38:10.