„They had not to work“

Erinnerungen an Sex-Zwangsarbeit in einem frühen Interview

Boder fragt den Überlebenden Otto Feuer ungewöhnlich offen nach Sex-Zwangsarbeit im KZ Buchenwald. Doch dieser kolportiert eine Erzählung, die nur auf Hörensagen basiert und das Leid der Frauen verschleiert.

Krankenpapiere der 16 Häftlingsfrauen, die aus Ravensbrück nach Buchenwald verbracht wurden, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora

Die Existenz von Häftlingsbordellen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, so genannten Sonderbauten, fand fast 70 Jahre lang weder in der Geschichtswissenschaft noch in den betreffenden Gedenkstätten Beachtung.[1] Dies ist umso erstaunlicher, da bereits kurz nach Kriegsende zahlreiche Überlebende von diesen Lagerbordellen berichteten.[2] Einer von ihnen war Otto Feuer[3], Überlebender der KZ Sachsenhausen, Dachau und Buchenwald, der von David P. Boder im August 1946 in Paris interviewt wurde. Diese Aufzeichnung[4] steht nicht nur exemplarisch für ein sehr frühes Interview mit einem Holocaustüberlebenden, sondern auch für den Beginn einer langen Reihe von Berichten männlicher Überlebender, die das Narrativ über Sex-Zwangsarbeit und Sex-Zwangsarbeiterinnen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern über die kommenden Jahrzehnte prägen sollten.

Im Jahr 1942 führte die SS ein Prämiensystem in Konzentrationslagern ein, um die Leistungsfähigkeit wichtiger „Facharbeiter" und Funktionshäftlinge für die Rüstungsindustrie zu erhöhen. Sie rekrutierte weibliche Häftlinge, errichtete Bordelle, schrieb deren Besuch als höchste Prämienstufe aus und etablierte damit eine neue, perfide Form der Ausbeutung: Sex-Zwangsarbeit[5], die von weiblichen Häftlingen verrichtet werden musste. Diese „Sonderbauten" wurden in insgesamt zehn Konzentrationslagern errichtet und bestanden zum größten Teil bis kurz vor Auflösung der Lager. Insgesamt waren mindestens 170 Frauen unterschiedlicher Nationalitäten und Häftlingskategorien (die meisten so genannte Asoziale) von dieser Form der sexuellen Ausbeutung und Zwangsarbeit betroffen.

Der Ort, an dem sich früher das Lagerbordell befand heute
Der Ort des ehemaligen Lagerbordells in der Gedenkstätte Buchenwald. Foto: Yana Alimova, März 2021

In zahlreichen Interviews, die ich für meine Studie „Leidbilder – Sex-Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Lagerbordellen in Erinnerung und Forschung“ analysierte, machen Überlebende zwar Andeutungen über die Lagerbordelle, werden aber von den Interviewer:innen nicht näher befragt oder das Thema wird von diesen aktiv abgebrochen. David P. Boder hingegen fragt Otto Feuer explizit nach dem Bordell im KZ Buchenwald und stellt Nachfragen, sobald Feuer davon berichtet. Er will, ganz im Gegensatz zu den meisten Interviewführenden, mehr wissen, mehr verstehen:

„They volunteered. What were they given in exchange?“

Gesprächsausschnitt aus dem Interview vom 22. August 1946 in Paris. Website „Voices of the Holocaust", Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin Library, Chicago

Doch auch Boders erste konkrete Frage nach dem Häftlingsbordell in Buchenwald verweist auf das den Erzählungen implizite Problem: „What did they tell about the brothel in Buchenwald?“. Explizit fordert er Otto Feuer damit auf, von den Erzählungen anderer, also Dritter zu berichten und Hörensagen wiederzugeben. Dies ist zwar einleuchtend, da Otto Feuer als Jude offiziell keinen Zugang zum Bordell und damit keine eigenen Erfahrungen hatte, legitimiert im weiteren Verlauf gleichzeitig aber auch dieses Hörensagen. Feuer gibt die Perspektive männlicher Mithäftlinge uneingeschränkt wieder und ergänzt diese Beobachtungen aus zweiter Hand durch eigene Wertungen, ohne deren Wahrheitsgehalt anzuzweifeln.

Der Bordellbesuch im KZ bleibt daher auch in Feuers Darstellung eine gewöhnliche Dienstleistung (Sex gegen Geld) und verschleiert das erlebte Leid der Frauen. „Prostitution" folgt für ihn und die anderen Männer auch im abgeschlossenen System Konzentrationslager ihrer vermeintlichen Zweckmäßigkeit und wird auf diese Weise in den Erzählungen von Zwang, Erniedrigung und Arbeitscharakter befreit.

Paradigmatische Interviewaussagen
Die Forschung zu Sex-Zwangsarbeit war und wird immer noch dominiert von unkritisch übernommenen männlichen Perspektiven in Erinnerungsberichten, die ein eindimensionales und falsches Narrativ über diese gewaltvolle sexuelle Ausbeutung in Lagerbordellen und die von ihr betroffenen Frauen geformt haben. Die wenigen Berichte, die von Sex-Zwangsarbeiterinnen selbst stammen, erfuhren in der historischen Aufarbeitung kaum Anerkennung.[6] Erzählungen von männlichen Überlebenden über die Lagerbordelle finden sich hingegen in sehr vielen Zeugnissen und Berichten seit Kriegsende. Besonders in Interviewsituationen berichteten viele männliche Häftlinge über die vermeintlichen Geschehnisse im Bordell. Je mehr diese Überlebenden in den Nachkriegsjahren um gesellschaftliche Anerkennung ringen mussten, umso entwertender wurde die Erzählung über die Sex-Zwangsarbeiterinnen oder verschwand sogar ganz aus den Berichten – aber nur um einige Jahre später zugunsten der eigenen, idealen Geschichte instrumentalisiert zu werden. Alle Phasen der Berichte sind gekennzeichnet von Abwertung, Fehlinterpretationen und Beschuldigungen.

Das Interview Boders mit Feuer bleibt so einer Ausschlussmechanik treu, die sich als klassisch für das sich herausbildende männliche Überlebendenkollektiv bezeichnen lässt: Otto Feuer hat kein Bewusstsein für die Situation der betroffenen Frauen, wertet den Sex in den Bordellen als Freizeitvergnügen, bei dem im Zweifel die Männer schlechter von der SS behandelt wurden, weil sie sich keine Frau aussuchen durften. Die Sex-Zwangsarbeiterinnen müssen auf diese Weise nicht in das Überlebendenkollektiv integriert werden. Stattdessen verdunkeln die Sprache der Männer und ihre Zuschreibungen die Leiderfahrungen der Frauen und implizieren gleichzeitig, dass sie keine schwere und körperliche Arbeit leisten mussten.

Am Ende bietet das Interview einen kurzen ambivalenten Moment: Feuer bezeichnet die Frauen an einer Stelle als „deportees […] of a women’s concentration camp“ und gesteht ihnen damit Gefangenen-Status zu. Boder geht darauf leider nicht näher ein, fragt nicht weiter nach. Feuer verbannt jedoch direkt anschließend wieder die Frauen aus der Häftlingsgemeinschaft, indem er drei Behauptungen aufstellt: Die Frauen meldeten sich freiwillig für das Bordell; sie mussten nicht arbeiten; sie wurden wie die SS verpflegt. Otto Feuer begeht damit eine mehrfache Leugnung historischer Faktizität: Erstens negiert er, dass jede Arbeit im Konzentrationslager unter Zwang ausgeübt wurde. Zweites definiert er Sex-(Zwangs)Arbeit nicht als Arbeit, da aus seiner Sicht die Frauen keiner körperlichen Belastung ausgesetzt waren und keine Erschöpfung erlebten, sondern einen Ausweg aus der körperlichen Lagerararbeit gefunden haben. Da er den Sex nicht als Arbeit oder gar Zwangsarbeit anerkennt, wird dieser mit Freiwilligkeit assoziiert, mit Vergnügen und, wie er es als Drittes benennt, mit besseren Lebensumständen: die Frauen litten seiner Aussage nach nicht unter Hunger, da sie weder Arbeit leisten mussten noch Verpflegungsmangel hatten.

Zum Interview mit Otto Feuer

Boders zum Teil insistierende Fragen trugen zweifelsohne dazu bei, ein frühes Zeugnis über Sex-Zwangsarbeit in den Lagerbordellen zu sichern. Er ist einer der wenigen, die sich in Interviews dem Thema aufgeschlossen und ohne Scham nähern.[7] Trotzdem bleiben viele wichtige Fragen ungestellt. Das Schicksal der Sex-Zwangsarbeiterinnen bleibt im Dunkeln, stattdessen wurde auch durch dieses Interview das nicht den historischen Tatsachen entsprechende Narrativ eines männlichen Überlebendenkollektivs etabliert.


  1. Der Artikel basiert auf der Studie der Autorin Verena Schneider, Leidbilder – Sex-Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Lagerbordellen in Erinnerung und Forschung, Hamburg 2017.
  2. Hierzu zählen etwa Eugen Kogon/Odd Nansen, Von Tag zu Tag, Hamburg 1949, S. 187; Tadeusz Borowski, Bei uns in Auschwitz, München 2008, S. 24-26. Borowskis Erzählungen erschienen bereits 1946 in Polen, aber erst 1963 in deutscher Übersetzung.
  3. Otto Feuers Ausreise in die USA scheiterte im September 1939. Er wurde verhaftet und befand sich die nächsten sechs Jahre in Konzentrationslagerhaft, zunächst in Sachsenhausen und Dachau. Anschließend war er von Juni 1941 bis April 1945 im KZ Buchenwald inhaftiert, seine Erinnerungen an die Geschichten über das Lagerbordell beziehen sich auf diese Zeit. David P. Boder traf ihn im August 1946 für das Interview im Pariser Büro des American Joint Distribution Committee, wo Feuer leitender Angestellter war.
  4. Das Lagerbordell des KZ Buchenwald, in dem Otto Feuer inhaftiert war, wurde am 11. Juli 1943 eröffnet. Am 2. und 4. Juli wurden insgesamt 15 Sex-Zwangsarbeiterinnen in das Lager transportiert. In den ersten zwei Wochen des Betriebs herrschte ein so großer Ansturm auf das Bordell, dass jede der 15 Sex-Zwangsarbeiterinnen zwischen zehn und 15 Männern pro Tag für sexuelle Zwangskontakte zur Verfügung stehen musste (Vgl. Robert Sommer, Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Paderborn 2009, S. 124-128.)
  5. David P. Boder interviewt Otto Feuer, 22. August 1946, Paris, in: Voices of the Holocaust, 01:02:12 - 01:09:05.
  6. Begriff der „Sex-Zwangsarbeit"  nach: Helga Amesberger/Katrin Auer/Brigitte Halbmayr, Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern, Wien 2010, S. 101ff. Der Begriff soll deutlich machen, dass Lagerbordelle als Teil des NS-Zwangsarbeitssystems eingerichtet wurden, mit dem Ziel der Steigerung wirtschaftlicher Gewinne. Die Sex-Zwangsarbeiterinnen waren sowohl Opfer nationalsozialistischer Verfolgung als auch Zwangsarbeiterinnen in Arbeitskommandos.
    In der vorliegenden Arbeit wird außerdem der Begriff „Sexarbeit“ verwendet. Die Bezeichnungen „Prostitution“ oder „Prostituierte“ werden entweder nur als Zitat verwendet oder stehen in Anführungszeichen. Die Definition für Sexarbeit folgt dabei der Argumentation der Aktivistin Carol Leigh, die sie 1978 erstmals veröffentlichte (ausführlich: Carol Leigh, Unrepentant Whore: Collected Work of Scarlot Harlot, San Francisco 2003): Der Begriff verdeutlicht zum einen den Lohnarbeitscharakter der Sexarbeit und baut zum anderen die negativen Stereotype, die mit „Prostitution“ in Verbindung gebracht werden, ab.
    Christa Paul beschäftigte sich als erste Wissenschaftler:in 1994 in „Zwangsprostitution. Staatlich errichtete Bordelle im Nationalsozialismus“ kritisch mit dem Themenkomplex Sex-Zwangsarbeit und machte diesen für die Forschung überhaupt zugänglich. 1995 interviewte sie für den Film „Das große Schweigen – Bordelle in Konzentrationslagern“ (ARD, 30 min) Frau W. und Frau M., beide ehemalige Sex-Zwangsarbeiterinnen, und sicherte damit zwei der wenigen überlieferten Zeugnisse.
  7. Boder spricht außer mit Otto Feuer noch mit Jacques Bramson, der in Buchenwald inhaftiert war, über das dortige Häftlingsbordell. Mit Fira Monk, die während der Zeit der deutschen Besatzung für das ORT in Frankreich arbeitete, kommt das Gespräch auf das Häftlingsbordell in Auschwitz. Siehe: David P. Boder interviewt Jacques Bramson, 16. August 1946, Paris, in: Voices of the Holocaust und David P. Boder interviewt Fira Monk, 7. September 1946, Paris, in: Voices of the Holocaust.