Elf Jahre nach seinem Gespräch mit David P. Boder wandte sich Abram Kimelman mit einem Brief aus Israel an den Psychologieprofessor. Die Publikationsgeschichte der Audio-Aufzeichnung von 1946 wirft ethische Fragen nach dem wissenschaftlichen Umgang mit Interviewsammlungen auf.
Mitte Januar 1958 erreichte den Psychologen David Boder ein Brief aus Israel. Adressiert war er an Professor David P. Boder, University of California. Der Absender schien sich jedoch nicht ganz sicher über die Adresse zu sein, in Klammern ist zusätzlich eine Alternative vermerkt: „or: ? Illinois Institute of Technology Chicago“. Der handschriftlich verfasste Text des Briefes wird den Empfänger sicherlich überrascht haben:
Sehr geehrter Herr Professor,
Als Sie mich vor 11 Jahren unter dem Pretext einen Aufnahme-Aparat (Erfindung einer Ihrer Schüler) popularisieren zu wollen, zum sprechen brachten, glaubte ich kaum, jemals wieder von Ihnen zu hören. Unerwarteter Weise, gelang vor einigen Tagen mir zu Händen, Ihr Buch „I did not interview the dead" wo ich unter dem erdachten Namen Abe Mohnblum figuriere. Herr M. Katan, Bibliothekar der Universitätsbibliothek in Jerusalem, hatte die Güte mir die Original-Aufnahme „Interviews with displaced persons" zu leihen. Ich bin von der Lecture dieses Dokuments sehr gerührt, und wäre Ihnen ausserst verbunden, wenn Sie mir ein Exemplar des Buches, und vorallem das Original-Interview, schicken würden.
Ich hoffe, dass es Ihnen recht gut gehe.
Empfangen Sie, lieber Herr Professor, meine besten Grüße
Abram Kimelman
Zur Einordnung: Am 27. und 28. August 1946 hatte Boder in Genf ein Interview mit dem aus Polen stammenden jüdischen Waisen Abraham Kimmelmann geführt.[1] Kimmelmann hatte als Jugendlicher mehrere Konzentrations- und Zwangsarbeitslager überlebt, war am 11. April 1945 in Buchenwald befreit worden und von dort mit einem humanitären Hilfstransport in die Schweiz zur Erholung und Ausbildung gebracht worden. Er blieb dort für sieben Jahre, heiratete und emigrierte 1952 mit seiner Frau nach Israel, wo er unter dem Namen Abram Kimelman bis zu seinem Tod im Jahr 2020 lebte.[2]
Zum Interview David P. Boders mit Abram Kimmelmann
Boder hatte seit seiner Rückkehr in die USA im Herbst 1946 unermüdlich an der Auswertung seiner Audio-Aufnahmen aus Europa gearbeitet. Ein erster Schritt war eine Übersetzung der teilweise mehrsprachig geführten Interviews ins Englische. Damit schuf er die Voraussetzung für eine quantitative Auswertung und eröffnete zugleich die Möglichkeit, die akustischen Dokumente seinem amerikanischen Publikum als Text zugänglich zu machen. Das Interview mit Kimmelmann gehörte zu den allerersten, die der Psychologe ins Englische übertrug. Einen Teil davon publizierte Boder bereits Ende 1949 in der im Brief erwähnten Sammlung „I Did Not Interview the Dead“.[3] Das Interview mit Kimmelmann – der im Buch unter dem Pseudonym Abe Mohnblum geführt wird – ist mit der Frage „What is Man?“ überschrieben und als viertes Kapitel in einer Montage von insgesamt acht Interviews abgedruckt. In der Einleitung betonte Boder explizit die Bedeutung seines Interviewprojekts für die Erforschung von Traumata.[4] Im Jahr 1950 veröffentlichte der Psychologe das Interview schließlich in voller Länge im ersten Band seiner insgesamt 16-bändigen „Topical Autobiograhies of Displaced People“.[5] Kopien dieser im Eigenverlag herausgegebenen Transkript-Bände samt erster Interpretationen und wissenschaftlichem Anhang verschickte der Forscher im Laufe der 1950er Jahre weltweit an insgesamt 28 Bibliotheken. So gelangten sie auch nach Jerusalem.
In dem faszinierenden Schreiben aus dem Jahr 1957, mit dem sich der 1946 Interviewte über zehn Jahre später an seinen damaligen Interviewer wandte, wird überdeutlich: Von Boder hörte der Befragte nach dem Interview zunächst lange Zeit nichts mehr. Der Forscher würdigte die Befragten in der Danksagung zu seiner Monografie 1949 zwar als „heroes of the narratives“[6], jedoch dienten die Aufzeichnungen dem Wissenschaftler in erster Linie als Forschungsmaterial. Auf dessen Grundlage wollte er valide Aussagen über traumatische Auswirkungen von Extremerfahrungen auf die Psyche des Menschen treffen.[7]
Im zitierten Brief zeigt sich, dass Kimelman bis Ende der 1950er Jahre in Israel keinerlei Kenntnis von der Publikation seines Interviews hatte. Zudem artikuliert er, dass er sich um seine Geschichte betrogen fühlte: Das von Boder verwendete Pseudonym „Abe Mohnblum“[8] wies Kimelman als „erdachten Namen“ zurück. Er wünschte sich von Boder das Buch aus dem Jahr 1949 und wollte insbesondere sein Original-Interview von 1946 hören.
Ein späteres Videointerview, das Kimelman 2005/06 für das US Holocaust Memorial Museum (USHMM) gab, erlaubt uns eine noch genauere Rekonstruktion der Ereignisse im Jahr 1957. Kimelman berichtet dort ausführlich über seine Lebensgeschichte und in der letzten Sitzung auch explizit über seine Begegnung mit Boder im Sommer 1946 in der Schweiz sowie über die Geschichte des späteren Briefwechsels mit ihm.[9] Interessanterweise ist es – analog zum Brief aus dem Jahr 1957 – erneut der Aspekt der Technik, an den sich Kimelman präzise erinnert. Er führt aus, dass Boder in Genf ausführlich über seinen Drahttonrekorder gesprochen habe. Boders Argument, eine neue Technik erproben zu wollen, sei für ihn allerdings nebensächlich gewesen, denn er war gewillt und bereit, über seine Erfahrungen unter deutscher Herrschaft zu sprechen.
Im Interview aus dem Jahr 2006 klärt Kimelman ebenso auf, dass es seine Frau René war, die ihn Ende der 1950er Jahre zu Boders Schriften geführt hatte, da sie als Sekretärin in der Universitätsbibliothek in Jerusalem angestellt war. Der Bibliothekar Moshe Katan hatte den ersten Band von Boders „Topical Autobiographies“ in den Bibliotheksbeständen entdeckt und war auf den Namen Kimmelmann aufmerksam geworden. Er schmuggelte das Buch aus der Bibliothek und so gelangte es zu Kimelman, der sich daraufhin direkt an Boder in den USA wandte. Boder antwortete Anfang des Jahres 1958 zwar auf den Brief aus Jerusalem, es war dem Psychologen allerdings nicht möglich, ein Exemplar seines Buches, geschweige denn die Audioaufnahme zu schicken.[10] Kimelman schien im Jahr 2006 über die negative Antwort noch immer sehr enttäuscht zu sein, er wollte allerdings nicht schlecht über den Forscher sprechen, der zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Jahrzehnte tot war.
Der Brief von Kimelman an Boder wirft Fragen auf, sowohl über den wissenschaftlichen Umgang mit den vielfältigen Nachgeschichten der Interviewten als auch nach einer Forschungsethik bei heutigen Oral History Interviews. Was lernen wir über die Interessenkonflikte von Interviewer:innen und Interviewten?[11] Wie können wir die von Boder 1946 geführten Audio-Aufnahmen heute methodisch bedacht auswerten? Und wem gehören die Erzählungen aus dem Jahr 1946?