Nach Boders Tod geriet sein Projekt lange in Vergessenheit. Drei unserer Autor:innen berichten, wo sie dennoch auf seine Interviews stießen – und was sie von ihm und seinen Gesprächspartner:innen lernten.
Ich muss gestehen, dass mir David P. Boder erst durch Gespräche mit meiner hochgeschätzten Freundin und Kollegin Laura Jockusch etwa 2007/08 begegnet ist. Sie wiederum hatte sich mit Boders Initiative im Rahmen ihrer umfassenden Erforschung der Jüdischen Historischen Kommissionen beschäftigt. Deren Mitglieder hatten sich, ähnlich wie David Boder auch, der Aufzeichnung von Berichten und Zeugnissen jüdischer Überlebender des Holocaust sowie der Sammlung von Dokumenten und Objekten verschrieben. Uns beide interessier(t)en die verschiedenen jüdischen Reaktionen auf den Nationalsozialismus und den Holocaust in der frühen Nachkriegszeit.
Detaillierter noch habe ich mich später im Rahmen eines Seminars zur Geschichte der Jüdinnen und Juden in Europa 1945-1949 mit einzelnen Interviews aus dem Boder-Bestand auseinandergesetzt. Zusammen mit den Studierenden haben wir einem Ausschnitt dieses einzigartigen Stimmen-Archivs gehört und als besonders eindrucksvoll für unsere Annäherung an die Zeit des Kriegsendes wahrgenommen: durch ihre zeitliche Nähe zu den beschriebenen Erfahrungen und ihre Unmittelbarkeit bringen die Gespräche in besonderer Weise die Lage der Überlebenden zum Ausdruck, die gleichermaßen von schwersten Versehrungen und fundamentaler Unsicherheit wie von auf die Zukunft gerichteten Hoffnungen geprägt war.
Elisabeth Gallas
Ich habe im Auftrag der Koordinierungsstelle für Stolpersteine Berlin e.V. mehrere Kurzbiografien von Menschen verfasst, die in Berlin zum Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden und für die es bereits Stolpersteine gibt. Häufig war ich beim Verfassen der Biografien überwiegend auf die Akten nationalsozialistischer Akteure angewiesen sowie auf Entschädigungs- oder Wiedergutmachungs-Akten aus der Nachkriegszeit. Diese enthalten jedoch nur eingeschränkte Informationen und haben einen meist bürokratischen Ton. Auf Basis dieser (Täter)Dokumente das Leben einer Person nachzuzeichnen, ist nur sehr eingeschränkt möglich.
Anders war es im Fall des jüdischen Hochschullehrers Max Sprecher. Er wurde 1939 von der Gestapo in Berlin verhaftet und überlebte mehrere Konzentrationslager. Nach der Befreiung kam er in das DP-Lager bei Feldafing, wo er am 23. September 1946 von David P. Boder interviewt wurde. Ich hatte zuvor noch nicht mit dieser Interviewsammlung gearbeitet. Doch ich fand das vollständige Transkript des 1 ¼ stündigen Gesprächs sehr schnell über eine Online-Recherche auf der „Voices of the Holocaust“-Webseite.
Darin beschreibt Max Sprecher äußerst detailliert die verschiedenen Stationen seiner Verfolgung und seine Hafterlebnisse und das nur wenige Monate nach seiner Befreiung. Das Interview war für mich eine zentrale Quelle beim Verfassen der Biografie.
Der Stolperstein für Max Sprecher befindet sich am Weinbergsweg 9, wo er während seines Studiums an der Humboldt Universität wohnte.
Janna Lölke
Im Sommersemester 2015 hatte Axel Doßmann ein Seminar unter dem Titel „Fragen – Antworten – Fragen. Interviews und Tonaufnahmen mit DPs im Jahr 1946“ an der FSU Jena angeboten. Ich hatte gerade mein Masterstudium der Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts abgeschlossen und interessehalber an der Veranstaltung teilgenommen. Von den Audioaufnahmen, aufgenommen ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war ich sofort begeistert und fasziniert. Sowohl die Fragen von Boder als auch die Erzählungen der Überlebenden entsprachen nicht annähernd dem Bild der Zeitzeug:innen, die ich in Dokumentationen oder Interviews aus den 1990er und 2000er Jahren gesehen und gehört hatte.
Im Laufe des Semesters widmeten wir uns ausgewählten Interviews von Boder und tauchten immer tiefer in die Aufnahmesituationen, die Fragen und Erkenntnisinteressen des Interviewers sowie die Erzählungen der Überlebenden ein. Am Ende der Lehrveranstaltung stand für mich fest, dass ich mich noch viel intensiver mit diesem Interviewprojekt auseinandersetzen will. Im Oktober desselben Jahres begann ich mein Dissertationsprojekt, die Interviews von David P. Boder und der Wandel von Zeugenschaft des Holocaust bildeten das Herzstück der Arbeit.
Daniel Schuch