Transkribieren als archäologische Arbeit

Ein Gespräch über das Hören und Begreifen

Für fast alle DP-Interviews von David P. Boder liegen inzwischen Transkripte sowie Übersetzungen ins Englische vor. Doch sind die Worte und Laute wirklich immer richtig verstanden und plausibel verschriftlicht worden - oder lassen sich durch genaues Hinhören neue Erkenntnisse gewinnen?

Unsere Lust am genauen Zu- und Hinhören entwickelte sich seit 2016 in Seminaren an der Uni Jena. Wir – Studierende der Zeitgeschichte und ich als ihr Dozent am Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit – hörten immer wieder mal etwas anderes als uns vorliegende Transkripte suggerierten.[1] Solche Momente führten uns die deutende Dimension von Transkription vor Augen. Und sie gaben uns den Impuls für eigene, neue Ansätze nach modernen Regeln. Als deutsche Muttersprachler:innen mit großem Interesse an der Geschichte der Shoah fühlten wir uns zumindest für die deutsch geführten Interviews gut vorbereitet.

Dank finanzieller Unterstützung der Universität Jena konnte ich einige der Studierenden mit Transkriptionen beauftragen, die sie oft zu zweit realisierten und der sich eine dritte Evaluationsphase durch ein weiteres Ohrenpaar anschloss. Ziel dieser aufwändigen Arbeit ist es, dass diese neuen Transkripte die Deutungsarbeit an etwa 30 Interviews auf einem Bildungsportal zu Boders Interviewzeugnissen unterstützen – dieser Blog ist ein wichtiger Schritt dorthin. Hier wie auf dem künftigen Portal soll auch die instruktive Geschichte der Verschriftlichung von Interviews zum Thema werden. Erfreulicherweise wächst seit etlichen Jahren die akademische Aufmerksamkeit für Fragen der Transkription und Übersetzung von Interviewzeugnissen.[2]

Der folgende, per email entstandene Austausch zwischen Lisa Schank und Elisabeth Wermann gibt konkrete Einblicke in die kognitiven und emotionalen Erkenntnisprozesse, die eine solche Transkriptionsarbeit sehr wertvoll machen. AD

Axel: Wie habt ihr die Transkriptionsarbeit wahrgenommen?

Lisa: Transkribieren war für mich eine ruhige Arbeit. Ich habe es genossen, dem Gesagten so viel Aufmerksamkeit widmen zu können. Die Aufgabe, das Gehörte möglichst exakt niederzuschreiben, hat es mir erlaubt, mich voll darauf konzentrieren. Ich habe mit Kopfhörern transkribiert. Dieses aufmerksame Hören, so dicht am Körper, habe ich als sehr intim wahrgenommen: Die Distanz zu der über 70 Jahre vorher aufgezeichneten „Quelle“ nimmt ab und die aufgezeichneten Gespräche erwecken den Eindruck von Unmittelbarkeit.

Elisabeth: Herausfordernd war vor allem, sich erst einmal auf diese doch eher ungewohnte Quellengattung einzulassen. Das heißt nicht nur, dass ich mir Bedingungen für das gute Zuhören schaffen musste: eine ruhige Umgebung, Kopfhörer, ausreichend Zeit und nicht zuletzt innere Ruhe. Sondern ich musste auch akzeptieren lernen, dass ich bei dieser Arbeit nur mit dem Ohr „sehen“ kann, mich auf das eigene Gehör verlassen muss. Das war ungewohnt und herausfordernd, denn das aktive und „wache“ Zuhören über einen längeren Zeitraum ist ermüdend und muss tatsächlich erst gelernt werden.

Mir scheint, durch das genaue Zuhören entsteht ein besonderer Modus von Innerlichkeit. Welche Entdeckungen hast Du beim „verstehenden Hören“ gemacht, Lisa?

Lisa: Durch das wiederholte Hören und die Recherchen zu Begriffen, Namen oder Orten, die ich zunächst nicht verstand, haben sich mir auch historische Bezüge in den Interviews neu erschlossen – eine befriedigende Erfahrung. So spricht Roma Tcharnabroda beispielsweise von ihrer Zeit im HASAG-Außenlager Skarzysko-Kamienna und erwähnt dabei ihre Arbeit – laut der Transkription der Übersetzerin Dagmar Platt auf der Voices of the Holocaust-Plattform „bei Latrin, die gelbe Arbeit, sogenannt“. Tatsächlich spricht sie aber von „Pikrin“, einer Säure, die zur Herstellung von Minen und Granaten benutzt wurde. Die Inhaftierten im HASAG-Außenlager – Frauen und Männer – mussten das giftige Säurepulver weiterverarbeiten. Die Überlebende Felicja Karay beschreibt in ihrem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Death comes in Yellow“, wie dieses gelbe Pulver die Umgebung und die Zwangsarbeiter:innen konstant gelb färbte.[1]

Ausschnitt aus Boders Gespräch mit Roma Tcharnabroda. Website „Voices of the Holocaust", Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin Library, Chicago

Wie hat sich Euer Blick auf die Interviews, auf Boder und die Interviewten im Laufe eurer Arbeit verändert?

Lisa:
Boders Interviewführung empfand ich zunächst als unangenehm und aufdringlich, mit der Zeit habe ich seinen distanzlosen Umgang auch als eine Form der gleichberechtigten Begegnung schätzen gelernt – das haben Pia Marzell und Anna Jorina Fenner in ihrem Beitrag sehr gut erläutert.

Elisabeth: Einlassen musste man sich dabei nicht nur auf die ungewohnte Interviewführung durch Boder, sondern auch auf die zum Teil sehr schlechte Tonqualität: das häufige Rauschen im Hintergrund, teilweise verändert sich die Geschwindigkeit oder auch die Lautstärke, manche Begriffe sind einem nicht bekannt oder sehr speziell, wie Du ja auch schon betont hast, Lisa. Das bedeutete nicht nur, dass das Hören immer auch mit Recherchearbeiten verbunden, sondern auch, dass ein mehrmaliges Hören unbedingt erforderlich ist. Dabei verschob sich auch die eigene Aufmerksamkeit. Während man in den ersten Hördurchgängen vor allem damit beschäftigt war, das Gehörte, hier vor allem das konkrete Wort, festzuhalten, achtete man später mehr auf die Art und Weise des Sprechens oder eben auf den Inhalt bzw. die mögliche Bedeutung. So lernte man nicht nur Boder, sondern auch die jeweiligen Interviewpartner:innen besser kennen.
Spannend war dabei Boders wechselnde Rolle – je nach Gesprächspartner:in – wahrzunehmen: manchmal war er sehr dominant, manchmal rückte er eher in den Hintergrund und ließ geschehen. Diese Aushandlungsprozesse und die dialogische Form der Interviews, die ja noch nicht so stark standardisiert sind, wie etwa viele der Shoah Foundation Videointerviews seit den 1990er Jahren, waren für mich faszinierend. Das gilt beispielsweise auch dafür, wie die Interviewten auf Boders zum Teil ja auch naive Nachfragen reagierten. Die Gespräche sind dabei sehr persönlich und bieten eben nicht nur einen Einblick in das Erfahrene, sondern zeugen auch von ersten Ansätzen, das Erlebte zu beurteilen. Auch machen sie deutlich, wie die Interviewten in die Zukunft blickten und was sie sich dafür wünschten.

Lisa: Ja, man lernt sowohl Boder als auch die Interviewten gut kennen. Und es gibt noch eine dritte Ebene: Denn es liegen ja bereits Transkriptionen vor – die teilweise von Boder selbst, teilweise von anderen Personen angefertigt wurden. Beim Transkribieren tritt man auch mit ihrem Verständnis der Gespräche in Dialog. Ein Beispiel: Roma Tcharnabroda beschreibt, wie 200 griechische Jüdinnen in Majdanek ankamen. Die Verständigung mit ihnen sei aber schwierig gewesen, da sie nur Griechisch gesprochen hätten. Boder fragt daraufhin: „Spanisch?“ – und meint damit sicherlich Ladino, das von einem Teil der griechischen Jüd:innen und Jud:en gesprochen wurde. Dies wurde von Dagmar Platt, die das Interview transkribierte, jedoch nicht verstanden. Sie übertrug ihr eigenes Unverständnis auf Boder und transkribierte dann nicht „Spanisch?“ sondern „Was?“. Damit ging dieser Bezug zu einem weniger bekannten Aspekt der europäischen jüdischen Geschichte in der Transkription verloren.

Ausschnitt aus Boders Gespräch mit Roma Tcharnabroda. Website „Voices of the Holocaust", Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin Library, Chicago

Transkribieren bedeutet also manchmal auch Verlorenes wieder hervorzuholen – eine fast archäologische Arbeit. An solchen Stellen lässt sich gut nachvollziehen, wie wichtig eine genaue und kontextbewusste Transkriptionsarbeit ist. Durch aufmerksames Hören und Recherchieren der historischen Zusammenhänge erklären sich vermeintlich unverständliche Passagen oft dann doch noch. Diese Erfahrung zeigt auch, dass es sinnvoll und nötig ist, nicht alleine zu transkribieren, sondern sich immer wieder mit anderen auszutauschen. Denn Ladino und HASAG kannte ich, weil ich mich damit beschäftigt habe. Andere Bezüge sind haben sich mir sicherlich nicht erschlossen.

Was war Euch besonders wichtig beim Transkribieren?

Elisabeth:
Ziel für uns war es, das Gehörte in Schrift zu transformieren. Das bedeutet natürlich, dass wir zu einem gewissen Teil Deutungen vornahmen, wenn wir festhalten wollten, was unabhängig vom konkreten gesprochenen Wort transportiert wird: also die gemachten Pausen, das gleichzeitige Sprechen, starke Betonungen oder wenn wir die unsemantischen Laute und Geräusche bewerten. Seufzt die Person? Lacht sie auf oder spricht sie an einer bestimmten Stelle immer schneller und lauter? All das erlaubt Rückschlüsse auf die Emotionen der/des Interviewten und muss folglich auch festgehalten werden. Wichtig war dabei, so genau wie möglich vorzugehen. Das zeigt wiederum, dass es unbedingt notwendig ist, die Interviews mehrfach zu hören und sich mit der jeweiligen Person vertraut zu machen, denn nur so erlangen wir die Kompetenz, den Sprechakt auch zu bewerten.

Lisa: Transkribieren wurde durch diese Aufmerksamkeit auch zu einer – zumindest teilweise – interpretierenden Arbeit, zumal wir parallel auch eingeladen waren, Passagen in den Interviews zu kommentieren, als erster Ansatz für später zu vertiefende Deutungsversuche.

Axel: Ja, das war mir wichtig damals: Ich wollte damit absichern, dass auch ganz frühe, vielleicht eher assoziative, noch nicht zu Ende gedachte Ideen von euch festgehalten werden für spätere Analysen. Auch solche Anmerkungen können für Dritte die Deutung bereichern, sie sind Reibungsflächen für das Hören und Lesen in der Zukunft. Und so eine spontane Notiz am Rande mag auch andere vor „Verständnisfallen“ bzw. unnötigen Mißverständnissen schützen.

Lisa: Durch das wiederholte Hören hatte ich den Eindruck, die Interviewten nach und nach besser kennenzulernen und durch den Fokus auf Details wie Sprechpausen, Veränderungen im Sprechtempo, Ungesagtes die Interviewdynamik immer wieder neu zu verstehen und zu interpretieren. Sehr interessant in diesem Kontext ist eine kurze Szene, in der es sowohl zwischen Boder und der Interviewten Bella Zgnilek als auch bei Boders Transkription Jahre später zu einem produktiven Missverständnis kam. Boder fragte Bella Zgnilek wie viele seiner Gesprächspartner:innen im Sommer 1946 am Ende des Interviews nach einer Botschaft, die sie den jungen Amerikaner:innen (sein vorgestelltes Publikum) übermitteln möchte: „Is there, eh, is there anything you want to tell young people in America?“ Bella Zgnilek zögerte, missverstand ihn offensichtlich: Sie verstand „your own people“ und interpretierte das als „die Juden“, wie sich an ihrer Antwort zeigt: „Well I will just send them regards and tell them I am happy that not everybody of the Jews went through such a hard life as we did.“[2]

Ausschnitt aus Boders Gespräch mit Bella Zgnilek. Website „Voices of the Holocaust", Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin Library, Chicago

Erst durch Bella Zgnileks Missverstehen von Boders Aufforderung – die er selbst Jahre später dann auch als „your own people“ transkribiert hat –, ergab sich ein neuer Gesprächsakzent. Das Gespräch drehte sich dann im Anschluss um eine andere Frage: Was ist die Botschaft einer Holocaustüberlebenden an diejenigen, die sie als „ihre eigenen Leute“ wahrnimmt? Nach Bellas erster, eher unemotionalen Äußerung unterbrach Boder das Band – eine äußerst frustrierende Erfahrung für alle Hörenden – denn das Gespräch zwischen beiden ist für immer verloren. Auf die Pause folgte dann Bella Zgnileks bemerkenswertes Plädoyer an „alle Juden“, die Deutschen dafür zu hassen, was sie „uns“ angetan haben (siehe dazu die spannenden Analysen bei Daniel Logemann). Offensichtlich lenkte Bellas Missverstehen des „young people“ das Gespräch in eine Richtung, in der nun über das Judentum als Kollektiv gesprochen wurde und öffnete so den Raum für eine bemerkenswerte Äußerung zu Rache und Vergeltung.

Der zweite Teil des Gesprächs mit Lisa Schank und Elisabeth Wermann folgt demnächst in diesem Blog.


  1. Die Transkripte der 15 in Englisch geführten Interviews gingen auf die Arbeit von Boder zwischen 1946 und 1957 zurück. Viele andere Transkripte verdanken sich Wissenschaftler:innen und Übersetzer:innen weltweit, die das Chicagoer Interview-Portal „Voices of the Holocaust“ bis 2009 zum Relaunch unterstützt haben. Sie transkribierten die Interviews meist zum ersten Mal: aus dem Deutschen, Jiddischen, Russischen, Französischen, Polnischen, Spanischen (Ladino), Litauischen und Lettischen. Boder selbst transkribierte selten. Er übersetzte direkt ins Amerikanische, Satz für Satz hörend, danach auf Tondraht sprechend. Die Transkripte davon bildeten die Grundlage für seine schriftlichen Fassungen.

  2. Für die kritische Reflexion der Transformation durch Verschriftlichung von Boders Interviews haben neben dem Literaturwissenschaftler Alan Rosen vor allem der Historiker Jürgen Matthäus und die Germanistin Beate Müller bereits wichtige Beiträge geleistet: Jürgen Matthäus, Displacing Memory. The Transformations of an Early Interview, in: Ders. (Hg.), Approaching an Auschwitz Survivor. Holocaust Testimony and its Transformations, New York 2009, S. 49-72; Alan Rosen, The Wonder of Their Voices. The 1946 Holocaust Interviews of David Boder, Oxford 2010; Beate Müller, Translating Trauma: David Boder’s 1946 Interviews with Holocaust Survivors, in: Translation and Literature 23 (2014), S. 257-271.

  3. Vgl. Felicja Karay, Death Comes in Yellow. Skarzysko-Kamienna Slave Labor Camp, Amsterdam 1996, S. 162 ff.

  4. David P. Boder interviewt Bella Zgnilek, 4. August 1946, Paris (Frankreich), in: Voices of the Holocaust, 00:21:59-00:22:15.